Ich spaziere in der Dunkelheit durch Mülheim an der Ruhr, auf der Suche nach Bildschirmen, auf denen ich “Dawns” von Jessica Arseneau sehen kann, die kanadische Künstlerin hatte in diesem Jahr eine Residenz bei Urbane Künste Ruhr und nun wird in den dunklen Stunden des Tages das Ergebnis dieser Residenz gezeigt. Meine erste Station ist das soziokulturelle Kunsthaus Macroscope.
Der Fokus liegt auf Menschen, jungen Menschen, sie sitzen auf dem Boden oder auf Stühlen, stehen an einer Ballustrade. Der Bildausschnitt bleibt immer unverändert, es gibt keine Aussicht auf die Sonnenaufgänge. Wir sehen Asphalt oder Schotter auf dem sie sitzen. Sie schauen nicht in die Kamera, manchmal bewegen sie sich so lange nicht, dass mir ist, als betrachte ich ein Foto. Hin und wieder ändern sie ihre Pose oder ihre Kopfhaltung. Sie sehen einander nicht an, sie berühren einander nicht. Sie sind müde, nicht in Anspannung. Die Bilder werden langsam heller, die Sonne geht auf.
Ich laufe hinüber zur vier.zentrale (gemeinsamer Raum der Theaterallianz vier.ruhr Mülheim), eine Frau mit roten Haaren und rotem Oberteil liegt bäuchlings auf einem erleuchteten Quadrat auf einer Halde. Der Bildschirm ist gut sichtbar, doch da das Bild unaufgeregt, selten bewegt und leise ist, bin ich die Einzige, die länger stehen bleibt. Im Alltag habe ich auch selten Zeit mich auf Betrachtungen einzulassen, die mir unverhofft begegnen. Meistens habe ich ein Ziel, den Kopf voll anderer Gedanken, und auch mit dem Plan mir heute “Dawns” anzusehen, spüre ich die Ungeduld, die mich weiter treibt. So ein Sonnenaufgang braucht etwas Zeit.
Dann liegt die längste Wegstrecke vor mir, über die Brücke hinüber zum Ringlokschuppen, überall sind schon Lichter an. Abendstimmung ist anders als Morgendämmerung. Goodbye versus hello. Den Sonnenaufgang erlebe ich selten, aber wenn ich es mal tue, genieße ich es sehr. Wenn ich mal früh unterwegs bin, finde ich die Stimmung des beginnenden Tages immer aufregend. Ich denke aber auch an nicht endende Sommerabende, das Heimlaufen mit Freund*innen nach durchgemachten Nächten, an das Vergessen der Zeit und nun an eine Generation, die das alles wegen einer Pandemie anders erlebt, anders erleben muss. Wie sie in Arseneaus Bildern zwar beieinander sind, aber doch allein wirken. So erschöpft. Keine Unbeschwertheit, kein Hindurchleben durch die Nacht. Eine Erschöpfung, die durch den Stillstand entsteht.
Am Ringlokschuppen entdecke ich einen Bildschirm, drei Menschen sitzen da, bildfüllend angeordnet, das könnte ein Gemälde sein. Zwei links etwas weiter hinten, vorne rechts eine Frau auf dem Boden. Direkt vor dem Bildschirm stören Überreste von Klebestreifen meine Sicht, da hat wohl ein Plakat geklebt.
Ich denke darüber nach, wie ich Jahreszeiten und Tageszeiten als Kind und Jugendliche intensiver erlebt habe und nun wieder intensiver erlebe, seitdem ich eine Tochter habe. In der Beschäftigung mit Achtsamkeit habe ich gelernt, einfach irgendwo zu sitzen und zehn Minuten lang nur zu atmen, tief in den Bauch hinein und lange durch den Mund aus. Einfach Dasein.
So wachse ich im Laufe meines Spazierganges hinein in die Betrachtung von “Dawns”, meine Gedanken werden klarer, kalte Luft füllt meine Lungen und ich gebe das Tempo vor. Den Körper in all seinen Zuständen unter die Lupe zu nehmen, ist auch Gegenstand des Tanzes. Diese stillen Beobachtungen zu Beginn eines Tages erzeugen (bei mir) ein Innehalten, ein Abfragen der Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Zeit und von Erlebtem.






Camera: Kathrin Grezschniok Featuring: Henrik Beeke, Leonie Böhmer, Danijel Brekalo, Katharina Geling, Fabio Gorchs, Kathrin Grezschniok, Ama Gyaako Kagya Agyemang, Lorenza Elisabeth Kaib, Aljoscha Lahner, Camilla Mücksch, Scherin Rajakunaran, Hannah Stratmann, Philipp Daniel Unger, Anna Wehling Special Thanks: Ralf D´Atri, Alisha Raissa Danscher, Jan Ehlen, Einar Fehrholz, Vittoria Lenz, Vanessa Nica Mueller, Thomas Szabo