You know that we know

„NAH“ von Marie-Lena Kaiser im tanzhaus nrw

Im Bühnenraum der großen Bühne des tanzhaus nrw sind Stühle, Hocker und Sitzkissen platziert. Auf der Bühne stehen Kati Masami Menze, Jordan Gigout, Eslam Elnebishy, Johannes Schropp und Bianca Sere Pulungan. Das Stück heißt „NAH“ und ist von Marie-Lena Kaiser. Kati nimmt ein Mikrofon und erzählt uns, dass die Performer:innen uns im Laufe des Abends nah kommen werden und uns auffordern werden, unsere Plätze zu wechseln und dass es hier im Verlaufe des Abends ganz anders aussehen wird. Sie sagt aber auch, dass wir das Publikum bleiben und sie die Performer:innen, kein Mitmachtheater also. Sie legt das Mikro weg. Bianca kriecht in Zeitlupe über den Boden, Kati fällt um. „You know that we know, that we are here,“ sagt Eslam. Sie spielen mit ihrem Körpergewicht, rennen geräuschvoll durch den Raum. Kati balanciert auf einem Knie, plumps – manchmal ist zu hören, wie jemand umfällt. Sie setzen sich zu Teilen des Publikums und erzählen uns, was sie oder die anderen gerade tun. Kati fragt sich, wie das Gewicht ihres Kopfes sie in Bewegung bringt. Eine schwarzer, kleiner Vorhang wird durch den Raum geschoben, manchmal versperrt er uns die Sicht, dann wird er weggeschoben und dahinter taucht eine Szene auf, die wir noch nicht gesehen haben.

Durch die Boxen wandert ein Flüstern und ein Klackern, das sich anhört wie ein Autoblinker. Jordan kommt kurz vorbei und sagt, dass hinter uns auch noch Bühnenraum sei, aber leider kein Licht. Er geht dort hin und tanzt. Kurz darauf beginnt er rückwärts um das Publikum zu rennen. Nun kommt Energie auf. Die ersten Kleingruppen werden von den Performer:innen eingeladen, ihren Sitzplatz zu wechseln. Partneringsequenzen erscheinen, die Performer:innen teilen Gewicht, hängen aneinander, zirkeln umeinander. Einige der Performer:innen wiederholen Bewegungssequenzen gemeinsam: „It helps to connect,“ sagt Kati. „Kati catch,“ ruft Bianca. Sie rennt und springt, doch Kati ist zu spät, Bianca fällt auf den Boden. Das ist unmittelbar, es ist lustig und es vermittelt Spaß. Wenig später probieren sie aus, ob Kati Bianca drehen kann, wenn die sich im Sprung in der Luft befindet. Auch das will nicht so richtig funktionieren. Sie lachen und das Beobachten ist lustvoll, da möchte man fast mitmachen. 

Eine Verdichtung der Bewegung und des Sounds im Raum beginnt. Um das Publikum herum wird ein schwarzer Vorhang zugezogen. Wir sitzen näher beieinander. An einigen Momenten des Abends hat man eine Vorahnung, was gleich passieren könnte, doch das passiert nie. Kaiser wählt nicht den einfachen oder offensichtlichen Weg. Gegen Ende wird der Vorhang wieder geöffnet und das Publikum wird in Grüppchen in den Zuschauerraum geführt. Die Performer:innen stellen sich in einer Reihe mit den Rücken zum Publikum auf. Sie bewegen ihre Becken vor und zurück. Sie drehen sich um, sie halten die Hände wie die vier kleinen Schwäne und ändern gemeinsam den Gesichtsausdruck: ernst, lächeln, übertrieben lächeln.  

Die Nähe zum Publikum entsteht durch diese fast private Kommunikation. Man will dorthin, wo gesprochen wird. Oft lachen die Leute über das Gesagte, stellen Nachfragen. Schnell ist klar, dass das hier ein echtes Angebot zur Kommunikation ist. Nichts auswendig Gelerntes. Etwas, das aus dem Moment entsteht. Zum Schluss sind wir wirklich Verbündete, denn wir werden aufgefordert die letzte Minute zu stoppen, während die Perfomer:innen sich verausgaben. Und dann zählen wir den Countdown: „10 – 9 -8 -… und so weiter.“ Wir feuern an, damit alle durchhalten. Und so endet „NAH“ wirklich mit einem emotionalen Höhepunkt. Wir waren zum Schluss wirklich ein Teil des Ganzen.   

Fotos von: Marie Laforge 

Jessica Arseneau “Dawns”

Ich spaziere in der Dunkelheit durch Mülheim an der Ruhr, auf der Suche nach Bildschirmen, auf denen ich “Dawns” von Jessica Arseneau sehen kann, die kanadische Künstlerin hatte in diesem Jahr eine Residenz bei Urbane Künste Ruhr und nun wird in den dunklen Stunden des Tages das Ergebnis dieser Residenz gezeigt. Meine erste Station ist das soziokulturelle Kunsthaus Macroscope.

Der Fokus liegt auf Menschen, jungen Menschen, sie sitzen auf dem Boden oder auf Stühlen, stehen an einer Ballustrade. Der Bildausschnitt bleibt immer unverändert, es gibt keine Aussicht auf die Sonnenaufgänge. Wir sehen Asphalt oder Schotter auf dem sie sitzen. Sie schauen nicht in die Kamera, manchmal bewegen sie sich so lange nicht, dass mir ist, als betrachte ich ein Foto. Hin und wieder ändern sie ihre Pose oder ihre Kopfhaltung. Sie sehen einander nicht an, sie berühren einander nicht. Sie sind müde, nicht in Anspannung. Die Bilder werden langsam heller, die Sonne geht auf.

Ich laufe hinüber zur vier.zentrale (gemeinsamer Raum der Theaterallianz vier.ruhr Mülheim), eine Frau mit roten Haaren und rotem Oberteil liegt bäuchlings auf einem erleuchteten Quadrat auf einer Halde. Der Bildschirm ist gut sichtbar, doch da das Bild unaufgeregt, selten bewegt und leise ist, bin ich die Einzige, die länger stehen bleibt. Im Alltag habe ich auch selten Zeit mich auf Betrachtungen einzulassen, die mir unverhofft begegnen. Meistens habe ich ein Ziel, den Kopf voll anderer Gedanken, und auch mit dem Plan mir heute “Dawns” anzusehen, spüre ich die Ungeduld, die mich weiter treibt. So ein Sonnenaufgang braucht etwas Zeit.

Dann liegt die längste Wegstrecke vor mir, über die Brücke hinüber zum Ringlokschuppen, überall sind schon Lichter an. Abendstimmung ist anders als Morgendämmerung. Goodbye versus hello. Den Sonnenaufgang erlebe ich selten, aber wenn ich es mal tue, genieße ich es sehr. Wenn ich mal früh unterwegs bin, finde ich die Stimmung des beginnenden Tages immer aufregend. Ich denke aber auch an nicht endende Sommerabende, das Heimlaufen mit Freund*innen nach durchgemachten Nächten, an das Vergessen der Zeit und nun an eine Generation, die das alles wegen einer Pandemie anders erlebt, anders erleben muss. Wie sie in Arseneaus Bildern zwar beieinander sind, aber doch allein wirken. So erschöpft. Keine Unbeschwertheit, kein Hindurchleben durch die Nacht. Eine Erschöpfung, die durch den Stillstand entsteht.

Am Ringlokschuppen entdecke ich einen Bildschirm, drei Menschen sitzen da, bildfüllend angeordnet, das könnte ein Gemälde sein. Zwei links etwas weiter hinten, vorne rechts eine Frau auf dem Boden. Direkt vor dem Bildschirm stören Überreste von Klebestreifen meine Sicht, da hat wohl ein Plakat geklebt.

Ich denke darüber nach, wie ich Jahreszeiten und Tageszeiten als Kind und Jugendliche intensiver erlebt habe und nun wieder intensiver erlebe, seitdem ich eine Tochter habe. In der Beschäftigung mit Achtsamkeit habe ich gelernt, einfach irgendwo zu sitzen und zehn Minuten lang nur zu atmen, tief in den Bauch hinein und lange durch den Mund aus. Einfach Dasein.

So wachse ich im Laufe meines Spazierganges hinein in die Betrachtung von “Dawns”, meine Gedanken werden klarer, kalte Luft füllt meine Lungen und ich gebe das Tempo vor. Den Körper in all seinen Zuständen unter die Lupe zu nehmen, ist auch Gegenstand des Tanzes. Diese stillen Beobachtungen zu Beginn eines Tages erzeugen (bei mir) ein Innehalten, ein Abfragen der Wahrnehmung des eigenen Körpers, der Zeit und von Erlebtem.

Camera: Kathrin Grezschniok Featuring: Henrik Beeke, Leonie Böhmer, Danijel Brekalo, Katharina Geling, Fabio Gorchs, Kathrin Grezschniok, Ama Gyaako Kagya Agyemang, Lorenza Elisabeth Kaib, Aljoscha Lahner, Camilla Mücksch, Scherin Rajakunaran, Hannah Stratmann, Philipp Daniel Unger, Anna Wehling Special Thanks: Ralf D´Atri, Alisha Raissa Danscher, Jan Ehlen, Einar Fehrholz, Vittoria Lenz, Vanessa Nica Mueller, Thomas Szabo

Alm meets 80s meets Autobahn

“Sonic highway” von MFK Bochum; 2., 3. + 4. Juli 2021

Bochum. Goldhammerstraße. Ich steige aus, nichts zu sehen. Ich laufe die Straße auf und ab und entdecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Hackenporsche, daran befestigt ist ein Nummernschild mit der Aufschrift “MFK Bochum” – AHA – das ist eine Geheimoperation, ich muss Zeichen entschlüsseln. Ich überquere die Straße und warte. Bald kommen mehr Menschen, sie steigen aus der Bahn und klappen Bücher zu, reden Englisch. Ich werde ungeduldig und luke in den Hackenporsche, drin ist ein braunes Paket. Nur zum Beschweren oder gibt es darin Hinweise? Kurz gebe ich mich meinen Detektivinnenphantasien hin, doch der Mann neben mir weist mich darauf hin, dass am Baum schon etwas passiere und tatsächlich: Da lehnt eine Performerin in braun-grünem Flattertarnanzug, die habe ich total übersehen. Eine große Detektivin ist an mir wohl nicht verloren gegangen. Kurz nach 11 schnappt sich die Buschlady (Katarína Marková) den Hackenporsche und wir folgen ihr durch Seitenstraßen und durch einen Weg in einer Kleingartenanlage, der in einem dreckigen, engen Abschnitt und dann direkt an einer großen Straße endet. Alle kriechen aus dem Busch. Wir folgen der Straße.

Plötzlich ertönen Glocken, Kuhglocken. Auf der gegenüberliegenden Seite erhasche ich einen Blick auf eine pink gekleidete Frau (Marlene Ruther) auf dem Berg, daher kommt das Geräusch. Wir klettern gemeinsam auf die Aussichtsplattform, dort wartet eine große Box auf uns. Die Stimme von Marlene ertönt, sie erzählt uns von den Hügeln, die hier rund um die Autobahn angelegt wurden und den Pflanzen, die darauf wachsen, Sanddorn und der Staudenknöterich zum Beispiel. Eine Künstlerin hat damals vorgeschlagen, dass der Blick auf die heimische Industrie erhalten bleiben solle. Viele regen sich auf über die 58.000 €, die die Plattform gekostet hat, auf der wir stehen. Im Vergleich zu den Kosten für das Autobahnkreuz insgesamt, sind die allerdings ein Tropfen auf den heißen Stein. Marlene spielt Flöte. Irgendwie schön hier. Wir schauen über die Autobahn, auf die Hügel auf der anderen Seite, da sitzt Franziska Schneeberger, Marlene ruft sie mit bayerischem Akzent. Der Kreis zu den Kuhglocken schließt sich. Wir hören auch Franziska durch die Box. Autobahnkreuz als Kulisse. Wir machen uns auf den Weg hinüber, über die Brücke, einen Hügel rauf. Dort erwartet uns eine beinahe solide Theatersituation, Plastikstühle mit Regenschutz drüber, ein Keyboard und anderes Soundequipment (auch ein paar Sachen aus der Kinderabteilung sind dabei), dahinter die Autobahn. Das Ruhrgebiet, die Mutterstadt des Autofahrens.

MFK Bochum fügt einen ordentlichen Beat hinzu, wir sind eine Lärmquelle auf dem Hügel. Wir schauen uns den Verkehr an: “Sonntagsverkehr… keine Drängler unterwegs… “ Katarina bewegt sich im Takt. Schritt, tap, Schritt, tap. Marlene erzählt von dem Film “Der Autokult” aus dem Jahr 1964, darin wird schon von “der blechernen Flut” berichtet. Für jedes verschrottete Auto, wurden drei Neue zugelassen. 1950 gab es in Herne 500 zugelassene Autos, 1964 waren es schon 1500, heute sind es 69.106 privat zugelassene Kraftfahrzeuge.

Die Musik erinnert mich an die 80er, ich denke an Night Rider und Zurück in die Zukunft, da war das Auto noch irgendwie gut… auf unserer Seite, ein guter Freund. Katarina legt sich auf die Lauer, sie erzählt von der Beziehung, die Menschen zu ihren Autos haben, wie sie sie waschen und pflegen, dass das Auto oft die Schwanzverlängerung des Mannes ist. Das ganze entwickelt sich zum Sextalk mit Hall obendrauf. Sie sind nicht einfach Gebrauchsgegenstand, sie sind Fetisch, sie versprechen Freiheit, Felxibilität, einfach einsteigen und losfahren…

Ein absurder Durchgangsort, ausgeleuchtet und von mehreren Seiten betrachtet. MFK Bochum hat alles entdeckt und aufgegriffen, was der Ort bietet: Die Berge, die Geschichte des Autofahrens, die persönlichen Verbindungen zu Autos, den Elektrorhythmus der Freiheit. Die Verbindung stimmt, es geht auf. Ich bin involviert und plötzlich ein bisschen verliebt in meine Blechkistenerinnerungen, wo ich doch sonst immer sage: die Städte müssen autofrei sein und nur noch Carsharing und so… was ist denn da los?

Am Schluss läuft die Musik weiter, es werden Nüsschen gereicht und Tee, es fängt an zu regnen, wir kriechen unter das Zelt. Schnell entstehen Gespräche, wir sind doch eine eingeschworene Gruppe, auf der Suche nach anderen Perspektiven, Orten und nicht alltäglichen Erfahrungen. Das ist das Besondere an der freien Szene.

weitere Termine geplant:

mfk-bochum.net

Fotos: Constantin Leonhard